QUALitätVOLLE Bücher

Letztes Mal habe ich euch mit einer kleinen Geschichte geschont und das ganze Theoretisieren mal beiseite gelassen. Ich hab viel positive Resonanz bekommen, vielen Dank nochmal dafür! Doch ich kanns nicht bleiben lassen mit der Theorie, vermutlich weil diese mich auch nicht bleiben lässt. Man kann ja nicht einfach ein Buch lesen, meistens hat man eine Meinung dazu und wenn nicht, dann scheint es einem, man müsste sie haben. Das ist bei einem schönen Schmöker oder einem kurzweiligen Krimi ja auch nicht so schlimm oder übel. Im Gegenteil, im Gespräch und Meinungsaustausch mit anderen ist es sogar recht lustig. Man kann sogar über Bücher reden, die man nicht kennt, weil man dann wieder etwas für seinen weihnachtlichen Wunschzettel hat. Was hat dir an dem Buch so gut gefallen? So hab ich das noch gar nicht gesehen! Ach, jetzt les ich es, glaub ich, gleich nochmal. Das macht mir zumindest grossen Spass! Aber das macht ein Buch noch nicht zur sogenannten Literatur. Und warum eigentlich nicht? Das hab ich mich in letzter Zeit ziemlich häufig gefragt und ich dachte, ich frage hier noch einmal. Was macht ein gutes Buch aus und was ist gute Literatur und warum ist da ein Unterschied?  

Also für mich ist ein gutes Buch eines, in dem man spazieren geht. Wie Jasper Fforde (für alle die ihn nicht kennen, googeln! das ist kein Schreibfehler ;) ) es so treffend beschrieben hat, man liest sich in das Buch hinein und geht es besuchen. Das klappt mit einem guten Buch ganz leicht. Ein wirklich gutes Buch schafft das auf den ersten Seiten. Deswegen ist einem Autor auch das erste Wort so wichtig, wie Stephen King einmal sehr richtig bemerkt hat. Lesen, das ist Träumen mit offenen Augen und wachem Geist. Und es ist mir schon oft gelungen, mich so sehr in ein Buch zu lesen, dass ich nicht wieder hinauswollte. Böse Welt, dass sie mich zum Essen und Schlafen zwingt. Na gut, vielleicht kann man nebenbei essen. Aber nicht nebenbei schlafen. Aber das finde ich schon noch heraus! 

Also ein gutes Buch macht weitestgehend süchtig. Das hat mein jüngerer Bruder kürzlich festgestellt. Er legte Harry Potter nach dem Kapitel In der Winkelgasse nur ungern aus der Hand und stellte spätestens bei Der sprechende Hut fest, er leide an Harry-Potter-Sucht. Und ich auch. Aber nicht nur Harry Potter. Es gibt ja so viele gute Bücher. Jetzt hab ich schon eine Menge Beispiele genannt. Aber keines davon gilt als Literatur. Warum eigentlich nicht? Was muss Literatur sein, mehr als ein gutes Buch? Geht das überhaupt... die Frage ist nicht unangebracht.

Oder gar dumm. Die Literaturwissenschaftler streiten sich nämlich sehr gern darüber, was jetzt eigentlich Literatur ist und meistens endet es damit, dass sie sich, nachdem sie sich die Köpfe tagelang heiss geredet haben, mit dicken Wälzern bewaffnet wie sie gern auftreten, selbige ihren Kontrahenten mit den Worten an den Kopf werfen: Das sei Literatur! Man kann also drauf zeigen. Theoretisch. Auf Harry Potter kann ich auch zeigen. Wenn ein Buch dann schon Literatur ist, wenn es gegenständlich, also in Druck gegangen ist, möchte ich zu dem Kriterium auf den ganzen Haufen Sch... verweisen, den ich bereits gelesen habe und der zu meinem grossen Unverständnis mehrfach aufgelegt wurde. Als ob das Buch dann besser wird. Also das ist kein Kriterium. Es muss ja irgendeine Form von Güte haben.

Viele würden mir zustimmen und sagen, Harry Potter sei ein gutes Buch. Andere würden das verneinen. Ist das also eine Frage des Mehrheitsbeschlusses, was gut ist und was nicht? Laut Mill ist es so einfach. Das, was von den Leuten klar präferiert wird, die sowohl das Eine wie auch das Andere kennen, ist das bessere von zwein. Ich leugne das. Ich habe kürzlich in Harvard eine Vorlesung von Professor Sandel gesehen zu dem Thema Gerechtigkeit und dort hat er eben ein solches Experiment gemacht. Er hat den Studenten Shakespeare, die Simpsons und noch irgendein Dokusoap-Reality-Trash gezeigt und die Mehrheit präferierte ganz klar die Simpsons. Obwohl sie Shakespeare mehrheitlich als besser einstuften. Dieses Experiment zeigt, dass es nicht so einfach ist, wie Mill es ausdrückte. Es gehört also scheinbar, und das war wohl Mills Clou, eine gewisse Bildung dazu, um sagen zu können, welches besser ist. Also entscheided jetzt die gebildete Mehrheit darüber, was ein gutes Buch ist und was nicht? Zu Mills Zeiten war das wichtig, weil nicht alle Schulbildung hatten. Aber heute geht fast jeder bis zum 16. Lebensjahr zur Schule und liest dort wichtige literarische Werke von Göthe und Schilla. Also sollte heute jeder in der Lage sein, zu entscheiden, da seine Bildung ihn dazu quasi befähigt und er das Buch und einen Vergleich kennt. Aber die Studenten waren gebildet und kannten beides. Ich kenne Göthe und Schilla und ich präferiere trotzdem Harry Potter. Warum? Liegt es vielleicht am wandelnden Zeitgeist? Und kann man den irgendwie austreiben, oder muss man sich damit abfinden, dass Ur-ur-Grossmutter einfach einen anderen Geschmack gehabt haben könnte?

Nö. Die grundlegenden Themen werden seit der Antike immer wieder aufgegriffen. Die junge Frau z.B. die sich für ihre Verwandten aus Loyalität und Familienliebe aufopfert, die gibt es bei Sophokles, dort hat sie den Namen Antigone, und bei Kleist. Dort heisst sie Käthchen. Aber jetzt finden wir bei Rowling dasselbe Thema wieder, in ihrer Figur der Lily. Bei Stephen King's Sarah heisst sie Jo. Und warum werden diese Themen immer wieder aufgegriffen? Weil sie ankommen. Ganz einfach. Unsere Ur-ur-Grossmütter hatten keinen abgefahrenen viktorianischen Geschmack. Sie haben meist dasselbe gemocht wie wir, nur anders verpackt. Also der Stoff kann es nicht sein, der ein gutes Buch zur Literatur erhebt. Dann wäre es ja auch leicht, Literatur zu schreiben, man muss ja nur abkupfern. Tatsächlich ist diese innere Bezüglichkeit auf andere literarische Werke ein Teilkriterium. Aber eben nur ein Teil. Es darf nämlich nicht zum Plagiat geraten, sondern muss vielmehr deutliche Kenntnis von der Kenntnis des Autors mit diesen vorangegangenen Werken geben. Also kommen wir so auch nicht wirklich weiter. Ist es die Innovation, die das Abgekupferte aufpoliert? Muss jeder literarische Schreiberling seinem Werk etwas Neues hinzufügen, sodass jeder Kenner sagt: "Oh ja, klar. Das ist aber neu." Dann wäre nach diesen beiden Kriterien aber jeder Zamonien-Roman ganz klar Literatur. Nicht nur, dass sich Walter Moers sehr gut mit den Vorgängern auskennt und sie auch im wahrsten Sinne des geschriebenen Wortes aufgreift, er ist auch innovativ. Man kann sich in seine Bücher hineinlesen. Und vielleicht ist es das?

Vielleicht darf man das mit Literatur gerade nicht tun. Es könnte doch sein, dass es ein ungeschriebenes Gesetz gibt, dass Literatur möglichst unverständlich sein muss, damit man sich daran so richtig schön die Zähne ausbeisst. Eine harte Nuss, sozusagen. Und die ganzen Literaturtheoretiker sind nichts weiter als Heath Ledger, der die Widerspenstige zähmt. Sie haben dann quasi ihren Daseinszweck damit erfüllt, dass sie sich mit Sachen auseinandersetzen, die für einen normalen Leser bzw. Liebhaber zu schwierig sind. Der Vergleich mit Mr. Ledger mag jetzt schmeichelhaft klingen, aber reduziert das Literatur nicht auch irgendwie auf elitäres Lesen, im Gegensatz zu gewöhnlichem Lesen? Und wir sind immer noch nicht dort angelangt, wo wir hinwollen, nämlich wer dann bestimmt, was Literatur ist. Eine Elite von Laffen, die nichts besseres zu tun hat, als Bücher nach Literatur zu durchforsten? Macht mich dann die Kenntnis der als Literatur bereits kategorisierten Bücher zu einem Mitglied dieser heeren Elite? Und wenn ich mit (fast) abgeschlossenem Studium nun sage: Harry Potter ist Literatur, weil mein Kriterium das so festlegt und Sara nicht? Mein Kriterium wäre nämlich die Sogwirkung des Buches. Wie oben bereits beschrieben, ist ein gutes Buch eines, indem man spazieren geht. Ich kann euch sagen, ich habe ja auch schon Werthers wertes Händchen gehalten, was hat der Kerl gelitten. Und die ganze Zeit habe ich darüber nachgedacht, wie ich aus dem Buch wieder herauskomme...da war jede Unterbrechung willkommen und gelesen habe ich es nur, weils auf einer Liste stand. 

Also mein Kriterium kann es nicht sein und das mit der Elite klingt so... blöd. Mir fällt kein anderes Wort dafür ein. Wir waren uns ja oben auch schon einig, dass Literatur mehr ist. Und drehen uns im Kreis wie Kreisel. Aber diejenigen Bücher, die grosse Literatur sind und die ich gelesen habe, die hatten alle hauptsächlich eines gemein: ich hab mich gequält beim Lesen. Es tat weh. Und der Besuch, das Versinken, das war schwer. Jetzt gerade versuche ich es mit Thomas Manns Dr. Faustus. Ich hab schon 110 Seiten geschafft und quäle mich. Ich zähle jede einzelne Seite, es ist wie Diarrhoe, immer begleitet von der bangen Frage: wann ist es endlich überstanden. Das ist dann das, was ich qualvolle Literatur nenne. Ähnlich ging es mir mit Dostojewskis Schuld und Sühne. Ist qualvoll also qualitätvoll? Und auch hier, wie könnte es anders sein, fällt mir prompt das Gegenbeispiel ein, Literatur mit Sogwirkung und Spassfaktor: Charlotte Brontes Jane Eyre oder Homers Odyssee und wir wären wieder bei Null.

 

Mir ist auch schon ganz schlecht. Ich werde es für heute dabei bewenden lassen, denn eigentlich bin ich ganz froh, dass nicht mein persönlicher Geschmack entscheiden muss, was gut ist und was Literatur ist. Nur ein Gedanke zum Schluss: Wenn es nicht diese Kontroverse gäbe, wenn sich die Literaturwissenschaftler nicht mit ihren erhitzten Köpfen und dicken Wälzern bekriegen würden, gäbe es dann Literatur? Ich glaube, gerade in der Unentscheidbarkeit und in der Diskussion liegt das Sandkorn Erkenntnis, das uns, wenn es uns ins Auge gerät, zu sehr reizt als dass wir noch etwas erkennen könnten. Wir müssen an dieser Stelle mit tränenüberströmten Gesicht das Körnchen auswischen und fallen lassen.             

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Kommentare: 1
  • #1

    Westmonster (Sonntag, 09 März 2014 00:06)

    Ui, was für ein schöner Gang durch die Literatur! So viele Thesen und Antithesen, und als ich am Schluss schon dachte: "schade, ich hatte so gehofft, dass sie eine Antwort auf diese Frage findet, die ich mir bis eben so noch gar nicht gestellt hatte", da kam sie! :) Bürokraten erschaffen Bürokratie, Literaturwissenschaftler erschaffen das Gespinst der Literatur - das gefällt mir! Und was mir noch besser gefällt ist der Schlusssatz! Der ist schlicht und ergreifend genial! Ob ich damit übereinstimme habe ich noch nicht entschieden, aber das Konzept und der Satz - saugeil! :D
    Und zum Schluss à propos Bildung: Berlin, am Goethe-Denkmal: "Aaah, Schiller! Eine kleine Nachtmusik - dadadadammm!"