Ich habe heute eine kleine Erzählung für euch. Ich hab mich nicht entschliessen können, etwas halbfiktives zu schreiben, dass einem Blogeintrag ähnelt und ich habe auch keine Zeit in meiner Freizeit zu philosophieren, weil ich das im Moment gerade zur Genüge und über Gebühr beruflich tue. Da muss man hier nicht auch noch allzu ernst werden. Also nun etwas rein fiktives, ein kleines Guetzli, das mir Jame die Muse heute im Kaffeehaus brachte und dass ich nun mit euch teilen will. Wer Guetzli will, der klicke auf mehr!
Das ungelesene Buch
„Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett...“ wie oft darf ich mir diesen Kalauer wohl noch anhören? Ja, ich heisse Mimi. Und nein, ich mag Bücher nicht. Früher einmal, da war das anders. Bücher sind was feines, doch. Die meisten Bücher jedenfalls. Ich hab jetzt jedenfalls auf die neuen Medien umgestellt und besitze lieber zwei bis drei Ebook-Reader, benutze immer die neueste Generation. Ja, ein bisschen kalt und modern ist es schon, sieht auch immer gleich aus. Und so ein Ebook-Reader ist auch nicht so schön zerlesen. Man sieht ihm die Innigkeit der Einverleibung nicht an, mit der man die Bücher jeweils genossen hat. Nun ja, das ist Schnee von gestern für mich.
Wie ich darauf komme, den Ebook-Reader zu bevorzugen, trotz meiner poetischen Innigkeit und alldem? Es ist halt so eine Sache, ein bisschen peinlich ist mir das schon. Ich gehörte zu der Sorte Menschen, die nie, niemals, ein Buch wegwerfen würden. Ach, das kennen Sie? Man soll ja niemals nie sagen. Ist viel wahres dran. Nun gut, ich erzähle, aber es wird Ihnen merkwürdig vorkommen und glauben werden Sie mir nicht, aber seis drum. Sie wollten ja, dass ich erzähle.
Ich hatte ein Buch, ein Schulbuch, also von Beginn an. Es war ein schnöder Titel, der nicht viel über den Klassiker in seinem Inneren aussagte. So ein typisches Buch, was man gelesen haben muss und das keiner wirklich lesen will. So eines haben wir Leseratten doch alle zuhause, ein bisschen versteckt im hintersten Regal. Wenn der Blick es streift, dann denkt man nicht an den Inhalt, die Figuren oder den Kaffeefleck auf Seite 33, dann denkt man an Herrn Meier und die 10 b, an Kreideflecken auf der Tafel und herrlich sinnfreies Geschnatter in der letzten Bank. Ich hatte dieses Buch während meiner Schulzeit kaum angerührt und jetzt immer weiter nach hinten gedrängt. Warum es nicht längstens anderen Titeln gewichen war, weiss der Himmel. Vielleicht, weil es im Gegensatz zu den vielen studierten Reclam-Bändchen meiner Schulzeit einen gebundenen Einband hatte und sich im Gegensatz zu dem Lehrergelb geradzu würdevoll ausnahm? Dort stand es also und entging meiner Aufmerksamkeit mehr und mehr, genauso wie meine Schulzeit nach dem Abitur und mit jedem Studiensemester in immer weitere Fernen rückte. Ich hatte dieses Buch völlig vergessen.
Eines Abends im August war ich nun dabei, das vollgeräumte Regal mit den gesammelten Werken meiner Studienliteratur ein wenig durchzulüften. Ich wollte Platz schaffen und hatte einen Zettel ans schwarze Brett gehängt: „Lehrbücher fast neu und in gutem Zustand abzugeben“. Ich musste also aussortieren, aber ich wollte die Bücher nicht wegwerfen. Warum auch, andere würden davon profitieren können, sie würden quasi adoptiert und jemand anderem noch von grossem Nutzen sein. Ein kleiner Karton stand vor meinen Füssen und die vorderen Buchreihen hatte ich bereits durchgesehen. Und nun entdeckte ich ganz unten, ganz hinten, zurückgedrängt in die letzte Ecke, dieses Buch aus dem Deutschunterricht. All die Jahre hatte ich es mitgeschleppt. Ich zog es also hervor, prüfte den Einband und fand es in Ordnung. Es entsprach genau meiner Beschreibung auf dem Zettel. Also legte ich es in den Karton und dachte nicht weiter daran.
Ein paar Tage später hatte sich auch jemand gemeldet, der meine Bücher adoptieren wollte. Als er abends kam und den vollen Karton sah, trat ein seliger Glanz in seine Augen. Ein Bücherfreund, ganz klar. Ich war glücklich, dass meine Bücher einen guten Platz in einem bücherfreundlichen Regal bekämen. Wir gingen den Karton kurz durch und er war mit allem zufrieden. Doch dann entdeckte er das Buch und zog es hervor. „Das habe ich bereits, das lasse ich da.“ Sagte er und ging mit den anderen Büchern fort. Nachdem ich ihn zur Tür gebracht hatte, kehrte ich um und sah das Buch einsam auf dem Tisch liegen. Sollte ich es wieder ins Regal zurückstellen? Der Platz war aber schon für meine Neuanschaffungen reserviert. Der Einband machte ja Eindruck, aber er wahr auch furchtbar nichtssagend. Ich konnte mich wirklich nicht mehr an Inhalt und Figuren erinnern. Bloss das Gewicht in der Schultasche und die Langeweile in der Deutschstunde kannte ich noch. Worum ging es denn gleich nochmal? Egal, ich kam nicht mehr drauf. Ich liess es vorerst liegen und ging zu Bett.
Am nächsten Tag hatte ich Freunde zum Essen eingeladen. Wer kennt das nicht, man hat Gäste und die kommen in Begleitung, der man freiwillig nicht die Tür aufgemacht hätte, aber nun. Da sassen wir also, schwatzten über belangloses, weil ich mich nicht mit Tiefsinnigerem ärgern wollte und der Begleitung fiel das Buch ins Auge. „Liest du das gerade?“ Nö, tu ich nicht. Habe es beim Aufräumen wiederentdeckt und bin nun unentschlossen. „Ja aber, das MUSS man doch gelesen haben, das ist doch ein Klassiker!“ Wirklich? Wir hatten das mal in der Schule. „Ja, aber das kennt doch jeder! Kulturgut! Welterbe! Dichter und Denker!“ Ich wurde auch immer dichter, je mehr die Begleitung dachte. Das purzelte alles so aus ihr raus, das ganze Gedenke. Fast hätte ich gesagt, also wenn man dabei so wird wie du, dann sollte man es besser nicht lesen. Aber man ist ja höflich, man hält sich ja zurück. „Also da hast du aber echt eine Wissenslücke! Da musst du wohl noch nachbessern. Sonst kannst du ja schwerlich behaupten, den Hochschulabschluss zu recht zu haben, gell?“ Dieses Lächeln dazu, als ob sie nicht gerade beleidigend geworden wäre? War mir zuvor vielleicht doch ein unachtsames Wort des Abscheus entschlüpft? Ich glaubte nicht. Ich wurde sauer. „Na, soweit ich das in Erinnerung habe, liest es sich ja ganz wunderbar.“ Flunkerte ich. „Es sieht aber so gar nicht gelesen aus. Wirkt nagelneu! Hast du überhaupt schon mal einen Blick hineingeworfen?“ „Ja klar in der Schule, sagte ich ja. Das ist jetzt schon so lange her. Wie wärs mit Nachtisch?“
Diese Bemerkungen hatten mich getroffen, ob ich wollte oder nicht. Wissenslücken habe ich nicht, zumindest nicht was die Bücher in meinem Haushalt anbelangt. Ich habe sie gelesen, mehr oder weniger aufmerksam und ich kann nun wirklich nichts dafür, dass die Flut des neuen Wissens die alten Böden des schulischen Wissenstandes überschwemmte und versanden liess. Ich wagte also einen Blick hinein. Oh wie merkwürdig das war! Fast schon als tanzten mir die Buchstaben vor den Augen. Es war wirklich unsäglich, ich brachte es nicht herunter... Nein, ich wollte, ich konnte dieses Buch nicht lesen. Und warum mich damit quälen? Irgendwann würde dem Gast schon aufgehen, wie mies die Begleitung war, und sie in die Wüste schicken. Hatte ich es in der Schule damals eigentlich gelesen? Ich suchte ein bisschen im Internet herum und fand eine kurze Inhaltsangabe. Kam mir unbekannt vor. Aber auch hier war man voll des Lobes über das Buch. Also setzte ich mich erneut hin, mit einer Tasse Tee. Ich las weiter bis der Tee leer war, dann gab ich auf und legte es weg. Verdammtvermaledeites Buch. Die Geschichte ödete mich an, die Figuren waren flach und uninteressant und ihre Tragödie erweckte in mir nicht das geringste Zartgefühl. Eigentlich dachte ich während des Lesens fortwährend: „Nur noch eine Seite. Diesen Absatz noch. Was bedeutet dieses Wort, ach was solls. Wird für die Handlung eh nicht wichtig sein. Apropos Handlung, viel passiert ja nicht, nur Gerede. Oh nein, noch ein Monolog und dann auch noch über drei Seiten. Muss ich mir das antun?“ Dann dachte ich an die Begleitung und ihre verletzenden Worte und pfefferte das Buch wütend in die Ecke.
Nun ja, wenn man von den eigenen Gedanken derart beherrscht wird, kann man schwer diejenigen des Buches erfassen. Es war auch gar nicht seine Schuld, dass die Begleitung meinte, es sei ein gutes Buch und man müsse es lesen. Ich rührte es also ein paar Tage nicht an und dachte auch nicht weiter drüber nach. Aber dann wurde ich beim Gast eingeladen und die Begleitung schien immer noch aktuell zu sein. Absagen konnte ich schlecht, war ich doch aus Dankbarkeit für den schönen Abend neulich quasi genötigt, einen mir passenden Termin auszusuchen, denn man wolle sich revanchieren. Meine Höflichkeit obsiegte erneut, was soll ich sagen? Ich glaube, die Höflichkeit macht uns zu schwächeren Wesen, als wir sein könnten und wollen. Da sass ich also, hatte den Telefonhörer aufgelegt und das Buch lag mir gegenüber immer noch auf dem Tisch und wirkte vorwurfsvoll. Lesen wollte ich es nicht. Aber vielleicht konnte ich es ja gelesen aussehen lassen. Ich nahm es und schlug es in der Mitte auf. Interessanter wurde es nicht, der Inhalt war immer noch unlesbar. Also knickte ich es ein bischen mehr als nötig und bog ihm den Rücken durch. Das war vielleicht ein bisschen fies. Aber es zeigten sich keine Gebrauchsspuren.
Ein altes Buch, das viel und gern gelesen ist, sieht auch so aus. Unebene Flächen, wo die Seiten aufeinanderliegen, Knicke im Buchrücken, abgestossene Einbände, Eselsohren, Flecken, Unterstreichungen in grau und bunt, leuchtende Klebezettel, sich ablösende Titel, herausfallende Seiten, geklebte Risse. Dieses Buch besass ich seit zehn Jahren und es wirkte neu. Und zwar nicht pfleglich behandelt, sondern niegelnagelneu. Wie gerade über den Buchhändlertresen geschoben. Meine grobe Behandlung tat dem keinen Abbruch. Ich legte es aufgeschlagen auf den Badewannenrand, als ich ein Bad nahm und hoffte auf den warmen Wasserdampf. Nichts. Ich trug es zwei Tage in meiner Handtasche mit mir herum. Nichts. Ich legte es unter mein Bett und bat die Staubflusen, sich schadlos zu halten. Nichts. Und nicht ein nichtendes Nichts, denn das wäre ja zumindest irgendwie tätig, sondern einfach gar nichts. Inzwischen hatte ich die Inhaltsangabe im Internet erneut gelesen und die Figuren kannte ich auch bei Namen. Ich hatte sogar gewagt, mir eine Meinung zu dem Buch zu bilden. Aber wenn ich es beim Abendessen aus der Tasche holen wollte, um zu behaupten, ich sei nun fast am Ende, dann musste es wenigstens gelesen aussehen!
Ich hatte mir eine Stelle unterstrichen, von der ich meinte, sie würde die ganze Langeweile und Langatmigkeit repräsentieren und klebte sogar einen Zettel hinein. Obwohl ich zugebe, ich hatte die Stelle wahllos herausgegriffen. Mühe eine solche zu finden habe ich allerdings wirklich nicht gehabt. Meiner Meinung nach war das Buch schlecht und unverständlich und nur deshalb auf die Liste der Literarischen Meisterwerke geraten, weil der Autor wegen eines früheren Vergehens von einigen bestochenen oder besoffenen Kritikern hochgelobt worden war und man daher meinte, auch seine weiteren Werke seien etwas besonderes, vermutlich gerade wegen ihrer hypnotischen Unlesbarkeit. Was Buchkritiker einem Autoren antun können, dass muss grausam sein. Wenn ich nur bedenke, was sie dem Leser oft genug antun! Wie viele lesenswerte Manuskripte verschimmeln in Schreibtischschubladen wegen eines betrunkenen Korinthenkackerlis?
Das Buch wollte einfach nicht gelesen aussehen. Es trug nun Bleistift und Leuchtstift und wurde benutzt, zuletzt stellte ich sogar meine Kaffeetasse darauf ab, als ich in der Schreibtischschublade nach Kugelschreiberersatzmienen suchte. Eine Zumutung. Aber scheinbar hatte sich das Buch mit dem Autoren und der Begleitung verschworen, es sah immer noch aus wie neu. Und dann verlor ich beim Herumtragen in der Handtasche wohl irgendwie das Klebezettelchen. Ich zog es heraus und nun hatte es auch dem letzten Gebrauch widerstanden! Da wurde mir die ganze Sache zu toll. Ich hatte es eigentlich loswerden wollen und nun war ich davon besessen. Mit Schwung öffnete ich das Fenster und beförderte das Buch mit einem gekonnten Wurf wie ein Frisbee in hohem Bogen hinaus. Hinaus, hinaus, bloss weg damit! Dachte ich und lachte! Beim Aufprall aus dem vierten Stock auf dem nassen Asphalt der Strasse würde es endlich ein paar Gebrauchsspuren davontragen! Aber sollte sich dann die Müllabfuhr darum kümmern. Mit dem Buch warf ich auch den Autor gleich mit. Nie wieder lese ich so einen Quark! Dachte ich. Ich bin mündig und lasse mir von einem Buch nicht diktieren, wie ich meine Freizeit verbringe!
Konnte ich denn ahnen, was unter meinem Fenster geschah? Ich war ja viel zu sehr mit dem Buch und seiner Zumutbarkeit beschäftigt. Ich ärgerte mich so sehr über die begleitenden Worte und das miese Gefühl, zu dumm für dieses Buch zu sein, es nicht zu verstehen und seine Meisterhaftigkeit nur darum anzuzweifeln, weil ich seine Grossartigkeit nicht erkannte. So sehr, dass ich den in diesem Moment unter meinem Fenster fliessenden Verkehr nicht bedachte. Ich hätte jemanden ernsthaft mit dem Buch schaden können, ich weiss es. Aber in diesem Moment war ich blind. Und so fiel der Schaden, den ich hätte anrichten können, auf mich zurück, das Buch kam mit Wucht zurück ins Zimmer, als hätte es nur auf diesen finalen Moment gewartet, als wollte es mir schon die ganze Zeit ins Gesicht springen. Es fiel tief und prallte auf einem Lastwagen auf, der genau in diesem Moment an meinem Haus vorbeifuhr. Die straff gespannten Tuchwände schleuderten es wie ein Trampolin hoch und in hohem Bogen zurück ins Zimmer. Und mich, wie ich da am Fenster stand und den Fall des Buches beobachten wollte, voll der hämischen Genugtuung für sein vorzeitiges Ende, traf es mit voller Wucht am Kopf.
Ebook-Reader werden immer kleiner, schmaler und dünner. Sie wiegen nicht viel und sind nicht mal mehr so dick wie ein Bleistift. Ausserdem haben sie noch einen weiteren klaren Vorzug. Man kann den Inhalt auch wieder löschen.
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Todesdrache (Sonntag, 19 Januar 2014 08:45)
Eine wirklich sehr gute, witzige Geschichte. Besonders das Ende, also die Konklusion warum die Erzählerin auf Ebook-Reader umgestiegen ist, gefällt mir sehr gut. Auch die Darstellung der Gefühlswelt der Erzählerin, als die Begleitung sie beleidigt, ist dir sehr gut gelungen. Man kann die Gefühle richtig nach empfinden und sich vorstellen, dass man in dieser Situation ebenso reagieren könnte.
Chrissie (Montag, 27 Januar 2014 15:28)
*brüll* -> und das ist ein Kompliment :-) Diese Kurzgeschichte hat mir den Nachmittag versüßt, wie ich hier sitze zwischen Büchern und Wikipedia, auf der Suche nach Erleuchtung in der Onkologie. Mimi hat mich mitgenommen in ihre Welt, in der E-Book-Reader eindeutig Vorzüge haben und schlechte Gesellschaft allgegenwärtig ist. Ich bin da wie Mimi. Ich setzte diesen Leuten auch nichts entgegen außer einem höflichen Lächeln. Blöde Höflichkeit, immer. Und das Schulbuch, welches Mimi verfolgt, ich schwöre dir, ich weiß genau, welches das ist, denn es steht hier auch in meinem Regal. Ohne jegliche Gebrauchsspur... Verschwörerisch? Vielleicht...
Vielen Dank für diese wunderbare Geschichte!