Wenn es den Weihnachtsmann nicht gäbe...

"Du hast mich angelogen!" Dieser Satz steht im Raum wie eine Sprengladung, scharf und brandgefährlich. 

"Wann hab ich das getan?!" Irritiert wende ich mich dem kleinen Jungen zu, der den Satz in den Raum geschleudert hat. Seine Winterjacke ist offen, der Schulranzen hängt nur auf einer Schulter, seine Wangen sind gerötet- von der Kälte oder weil er gerannt ist?

"Ich lüge dich doch nicht an. Das haben wir abgesprochen. Keiner lügt."

Der kleine Junge schließt die Eingangstür und lässt den Ranzen fallen. Immer lässt er ihn einfach fallen. "Räum mal den Ranzen ordentlich weg..." will ich sagen, aber sein Gesicht ist irgendwie verschlossen. Anders als sonst. Traurig? Enttäuscht!

"Was ist denn los?" frage ich stattdessen. Er zieht sich die Jacke aus und lässt sie auch fallen. Dann setzt er sich hin und streift die Schuhe ab. Wie immer, ohne die Schnürsenkel zu öffnen.  

"In der Schule hat Maxi gesagt, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt. Nur Babys glauben noch an den. Und er hat gesagt, dass die Eltern lügen, damit die Kinder brav sind und gehorchen." 

Ich schweige. Die Bombe ist geplatzt. Und ich bin völlig unvorbereitet. Ich denke nach. Wie soll ich dem kleinen Jungen jetzt ganz schonend sagen, dass es den Weihnachtsmann wirklich nicht gibt? 

 

Er geht ins Bad und lässt mich mit diesem Riesenvorwurf allein. Mit dieser "Lüge", die meine Eltern mir schon erzählt haben. Ich kann seine Enttäuschung verstehen. Wir hatten abgemacht, uns immer die Wahrheit zu sagen. Und dann belüge ich ihn bei einer so wichtigen Sache. Und das ganz selbstverständlich. Warum eigentlich? Aber habe ich wirklich gelogen? War es eine Lüge, dass es den Weihnachtsmann gibt?

 

Er kommt zurück. "Sieh mal, der Maxi hat recht. DEN Weihnachtsmann gibt es nicht." fange ich an und er blickt mich zornig an. Kleine Wuttränen blitzen in seinen Augen. "Wieso erzählst du das dann?" 

"Weil die Wahrheit viel komplizierter ist. Aber vielleicht bist du inzwischen ja groß genug, um das zu verstehen." Er strafft sich. Sicherlich ist er groß genug, das zeigt er mir, indem er den Kopf hebt und das Kinn vor reckt. "Ich bin ja kein Baby." sagt er und ich lächle. 

"Also die Wahrheit ist folgende: In Wirklichkeit gibt es keinen einzelnen Mann, der all das kann, was der Weihnachtsmann tut. In einer einzigen Nacht allen Kindern Geschenke bringen? Rentiere fliegen lassen? Elfen am Nordpol?" Ich lächle tapfer weiter. Er nickt. "Rentiere können nicht fliegen."

"Ja," sage ich "Das ist Zauberei." "Zauberei gibt es nicht!" ruft er und guckt entschlossen. 

"In Wirklichkeit ist die Welt, naja, grausam. Und brutal. Es gibt Krieg und Hunger und viele Menschen haben Schmerzen. Ich glaube, das weißt du schon." Der kleine Junge nickt, auch wenn er eigentlich noch viel zu klein ist. "Das kam in den Nachrichten." sagt er weise und mit der Überzeugung, dass das, was in den Nachrichten kommt, wahr sein muss. 

"Nun, einer allein kann da nicht viel machen. Und deshalb muss es den Weihnachtsmann geben. Wir haben ihn erfunden, weil wir ihn brauchen." sage ich und der kleine Junge sieht mich ratlos an. "Weil er den Kindern Geschenke bringt?"

"Nein, das tun die Eltern."

"Ja, aber dann brauchen wir den Weihnachtsmann ja gar nicht!" 

"Doch. Die Erwachsenen brauchen den Weihnachtsmann. Wir brauchen ihn, weil er uns an etwas wichtiges erinnert."

Mein kleiner Junge ist sichtlich verwirrt. "Wieso brauchen die Erwachsenen den Weihnachtsmann? Ihr könnt euch doch auch einfach aufschreiben, woran ihr euch erinnern müsst!"

"Wir brauchen ihn sogar ganz dringend. Es ist so wichtig, dass wir erinnert werden, da reicht aufschreiben nicht. So wichtig, dass wir nicht einfach einen alten Mann gewählt haben, der Weihnachtsmann sein soll, so wie wir einen Politiker wählen. Nein, wir haben eine Legende aus ihm gemacht. Eine große Geschichte, mit einem echten Kern.

Der Weihnachtsmann ist eine Verkörperung. Weißt du, was das ist? Eine Verkörperung ist eine Idee oder ein Gedanke, so stark und so klar, dass er fast lebendig ist. Die Idee von Weihnachten ist doch, anderen eine Freude zu machen und etwas Gutes zu tun. Wärme und Licht in die Welt zu bringen. Ein Mann allein kann das aber nicht schaffen. Alle müssen etwas tun. Und alle tun es im Namen des Weihnachtsmannes. Weil er uns daran erinnert, was wichtig ist. 

Alle kennen die Geschichte vom Weihnachtsmann. Und obwohl es nur eine Geschichte ist, machen alle mit. Weil die Idee richtig richtig gut ist. Alle Eltern, die ihren Kindern die Geschichte erzählen und ihnen Geschenke bringen, die werden zu Helfern des Weihnachtsmannes. Der Weihnachtsmann, den Einzelnen, der all das tut, den gibt es nicht. Aber es gibt seinen Geist. Und dank ihm kann jeder der Weihnachtsmann sein. Also gibt es eigentlich ganz viele Weihnachtsmänner. Überall."

"Und Frauen!"

"Ja und Frauen."

Mein kleiner Junge guckt mich mit gerunzelter Stirn an. "Dann kommt der Weihnachtsmann also doch, auch wenn ich nicht mehr daran glaube, dass es ihn gibt?" "Der Weihnachtsmann wird kommen." verspreche ich ihm. "Dieses Jahr und nächstes Jahr und jedes Jahr. Wenn du willst. Machst du mit?" 

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