Ist die Welt verrückt geworden?
Nein. Ich habe mir heute Morgen dank der Nachrichten wieder einmal diese Frage gestellt. Es gibt ja im Moment bzw. schon seit Längerem genug traurigen Anlass dazu. Weil ich eine Antwort auf fast alles brauche, bin ich auch schon länger am Grübeln. Nicht über den Terrorismus, das ist in meinen Augen verwerflich und nicht zu diskutieren. Ich suche nach Antworten für die politischen Umwälzungen. Und ich habe mir eine Erklärung überlegt, die zugegeben vielleicht wieder sehr philosophisch ist und die typischen Schwächen einer Philosophin mitbringt. Aber: Es ergibt irgendwie sogar Sinn, warum im Moment so viele tragische und verrückte Dinge geschehen.
Die heutigen Meldungen über die Türkei haben mir einen Schleier von den Augen gezogen. Warum gibt es dort einen Putsch, wieso reagieren Teile der Bevölkerung so? Natürlich denkt man sich erst einmal, dass der führende Politiker dort wohl etwas provoziert hat. Eine Reaktion wie diese lässt nur einen Schluss zu: die aktuelle Politik der Türkei ist nicht das, was sie sein sollte. Nun muss ich sagen, dass ich nicht besonders politisch interessiert bin, ich habe eigentlich immer einen gewissen Abstand dazu. Aber vielleicht ist es ja gerade das, was mir zu einer kleinen Einsicht verholfen hat.
Fakt ist, es läuft etwas falsch. Wer was falsch gemacht hat, ist nicht wichtig und die Details auch nicht. Warum meine ich das? Weil es ja nicht nur die Türkei betrifft. Ich habe gehört, dass man die türkische Regierung als konservativ einordnet, dass sie sich an alten Werten orientiert und die ursprüngliche Kultur mehr in den Vordergrund stellt. Parallelen dazu gibt es in Europa im Moment viele, man muss sich die verschiedenen Regierungen nur einmal ansehen: Russland agiert weitestgehend allein, England will aus der EU, in Frankreich und Deutschland sind populistische Volksparteien auf dem Vormarsch und auch im verarmten Griechenland sehen die Menschen politisch mehr auf sich als auf den Rest der Welt. Politisch wohl gemerkt, nicht sozial. Schaut euch das, wir sind ja alle gleich.
Viele Leute meinen, dass man mehr auf sein eigenes Land und das Wohl der Menschen im eigenen Land schauen soll. Dass die Bürger irgendwie Vorrang vor Nachbarn und Neuankömmlingen haben sollten. Dass uns das Wir-Gefühl verloren geht und Ressourcen für die Anderen aufgebraucht werden, die hier bitter nötig sind. Und das gilt nicht nur für Deutschland, das sagen auch die Engländer mit ihrem Brexit, die Franzosen mit ihren Aufständen, die Türkei und Griechenland mit ihren konservativen Regierungen. Und den vielen Wahlversprechen.
Auf der anderen Seite sind da Leute, die meinen, dass man weiter schauen muss als bis zur eigenen Grenze, dass man seine Nachbarn braucht und die Neuankömmlinge unterstützen sollte, weil sie vor Dingen fliehen, die man nicht mit unseren Vorstellungen eines guten Lebens vereinen kann. Es brodelt in der Welt. Und es scheint, als stünden sich dort zwei Parteien gegenüber, rechts und links. So wie es am Anfang des Jahrhunderts war. Aber das ist nicht so.
Was uns jetzt einholt, ist unsere eigene Schnelligkeit. Wir haben uns in einem rasanten Tempo entwickelt und sind wie ein Tsunami vorgeprescht, aber jetzt haben wir scheinbar die Küste erreicht. Unser Ritt auf der Welle steuert auf die Klippen zu und brandet in einer rauschenden Woge gegen die Felsen. Mit dieser Entwicklung gehen auch Zerstörungen einher.
Mit dem Bild will ich eigentlich verdeutlichen, dass unsere Entwicklung hin zu einer globalen, vernetzten Welt mit Satelliten, Internet, ständiger Erreichbarkeit, Video- und Audiodokumentation jeder Kleinigkeit, eines transparenten Lebens in einer schnellen Gesellschaft voller Ehrgeiz und Flexibilität irgendwann auf Widerstände stoßen muss. Alle haben Zugang zu etwas Großartigem, aber nicht alle denken, handeln und werten gleich.
Und natürlich wollen wir nicht gleichgeschaltet werden, sondern individuell bleiben, deshalb streiten wir. Und wünschen uns mehr Nationalstaatlichkeit und eine größere Betonung der eigenen deutschen, französischen, englischen, türkischen, griechischen Werte. Weil wir alle fühlen, dass wir etwas Besonderes sind und bleiben wollen.
Das Problem ist: wir haben uns bereits in die Gemeinschaft begeben, als wir uns sozial, politisch und wirtschaftlich weltweit vernetzten. Wir sind nicht mehr einzelne Länder, sondern eine Welt. Wir können gar nicht mehr nur auf unsere eigenen Werte schauen oder versuchen, nur das Beste für eine Gruppe Menschen herauszuholen, wie es die türkischen und die griechischen und die englischen Regierungen wollen. Es ist ein Aufbäumen gegen den Verlust. Und wir haben auch viel zu verlieren, unsere Kulturen, unsere Werte und unsere Individualität, das Neue und das Alte.
Nur können wir es nicht mit Gewalt erhalten. Wir müssen neue Wege finden. Denn eine Rückentwicklung zurück zu den Nationalstaaten, zurück zu den eigenen Grenzen, ist nicht mehr möglich. Wer will freiwillig auf Internet und alle anderen Annehmlichkeiten verzichten, die unser Fortschritt bietet? Wer geht wieder auf den Status der Fünfziger Jahre zurück? Oder noch weiter? Selbst wenn man es will – es ginge ja doch nicht.
Was bisher noch nicht verstanden worden ist, das ist, das wir keine Wahl haben. Wir werden zur Toleranz gezwungen. Wir können den anderen nicht unsere Werte überstülpen, wir können unseren Mitbürgern nicht ihre Freiheiten nehmen, wir können die Neuankömmlinge nicht abweisen. Wir müssen uns neu ordnen, unsere Werte beibehalten und gleichzeitig die der anderen wertschätzen. Das müssen wir jetzt lernen und wenn wir mit unserer eigenen Entwicklung und dem Prozess, den wir angestoßen haben, Schritt halten wollen, dann müssen wir es schnell begreifen, ungeheuer schnell. Wir müssen uns tolerieren, wie wir sind, sonst gehen wir unter. Sonst zerstören wir mehr, als wir ertragen können.
Das wird ein harter Kampf. Es liegt nicht in unserer Natur, freigebig zu sein. Wir sind egoistische Wesen, benutzen unseren Verstand mehrheitlich, um zu bekommen, was wir wollen oder vermeintlich brauchen. Und die anderen Völker sind genauso, weil es die Natur des Menschen ist. Deswegen der ganze Streit, deswegen die Aufstände, deshalb der Putsch. Wenn wir nicht lernen, dass andere ihre Sachen anders machen und wir sie ihre «Fehler» machen lassen müssen, werden wir nie wirklich vernünftig und die anderen nie erwachsen. Was uns die Philosophie hier nützen kann, ist dieser Weg zu einer vernünftigen Diskussion. Machen wir es philosophisch, treten wir in den Dialog.
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